Seit bald zwei Jahren ist das größte Thema in den Nachrichten, in der Politik und in vielen Privatleben eine Krankheit. Das ist für viele Menschen ungewohnt, aber für die meisten Menschen ist Gesundheit auch außerhalb der Pandemie ein großes Thema. Denn alle Menschen sind irgendwann in ihrem Leben mal krank und die meisten werden sogar in mindestens einem Lebensabschnitt mal be_hindert. Das ist auch ein wichtiges Thema für Klimagerechtigkeit. Warum das so ist, kannst du hier nachlesen.
Inhaltswarnung: In dem folgenden Blogbeitrag geht es um Ableismus, also einem System, das be_hinderte Menschen abwertet. Dabei werden Diskriminierung, Gewalt und Ermordung thematisiert.
Was ist eigentlich Ableismus?
Ich möchte hierfür eine Passage aus dem Buch „I’m a queerfeminist cyborg, that’s okay“ von Mika Murstein zitieren, da ich beim Lesen zum ersten Mal gut verstanden habe, was Ableismus ist. Mika Murstein schreibt (auf Seite 9) zuerst, dass Ableismus aus zwei Teilen besteht und der erste Teil davon Behindertenfeindlichkeit ist. Der zweite Teil ist ein „[…]Wertesystem in der Leistungs-, Verwertungs- und Nützlichkeitsgesellschaft. […] In Wahrheit geht es um die Bevorzugung und Höherwertung bestimmter Fähigkeiten gegenüber anderen und wie diese ausgeübt werden sollen. Be_hinderte Menschen werden oft daran gehindert, ihre Fähigkeiten auszuüben und an der Teilnahme in der Gesellschaft. Deshalb […] die Schreibweise „be_hindert“ […], um das be_hindert werden durch die Gesellschaft zu betonen.“
Genau wie Rassismus und Sexismus geht es nicht nur um Beleidigungen oder Belästigungen im Alltag, sondern es handelt sich um ein System, das strukturell und institutionell wirkt. Die Beleidigungen und Belästigungen im Alltag sind die sichtbare Spitze des Eisbergs, aber darunter liegt viel mehr. Ich selbst untersuche diesen Eisberg noch nicht seit langer Zeit, aber bin schon auf vieles gestoßen, was mich stark zum Nachdenken gebracht hat. Dabei habe ich mich ein bisschen mit der Geschichte von Ableismus befasst, mir angesehen, was be_hinderte Menschen selbst darüber sagen, und ich habe auch immer wieder auf meine eigenen Erfahrungen zurückgegriffen, denn eine große Erkenntnis habe ich durch die Beschäftigung mit Be_hinderung gewonnen: Ich bin auch be_hindert.
Warum wusste ich das vorher nicht? Es könnte einerseits daran liegen, dass unsere Gesellschaft eine sehr enge Vorstellung von Be_hinderung hat. Die meisten Menschen denken dann nämlich an Personen, die Rollstühle benutzen. Doch es gibt viele verschiedene Arten von Be_hinderungen. Zum Beispiel körperliche Einschränkungen, Lernschwierigkeiten, psychische Erkrankungen, chronische Krankheiten und Schmerzen, Suchterkrankungen und Hör- und Sehbeeinträchtigungen. Außerdem ist ‚Behinderung‘ oft eine Bezeichnung, die einer_m von außen gegeben wird. Der Staat (zusammen mit Ärzt*innen) kann zum Beispiel entscheiden, wie ‚schlimm‘ eine Behinderung ist und welche Rechte eine Person als Folge darauf bekommt oder nicht bekommt. Ein Schwerbehindertenausweis kann zum Beispiel dazu führen, dass eine Person kostenlos Bahn fahren darf oder mehr Urlaub nehmen darf. Gleichzeitig dürfen viele be_hinderte Menschen nicht so sehr über sich selbst bestimmen. Bis vor kurzem durften zum Beispiel viele be_hinderte Menschen nicht wählen; manche Menschen haben Betreuer*innen, die in einigen Angelegenheiten über sie bestimmen dürfen. Viele be_hinderte Menschen dürfen z.B. nicht selbst bestimmen, ob sie Kinder haben möchten. Aber auch sogenannte „Werkstätten für behinderte Menschen“ sorgen dafür, dass be_hinderte Menschen unsichtbar gemacht werden, abgeschottet von dem Rest der Gesellschaft und dort für ihre Arbeit nicht einmal richtig bezahlt! Der durchschnittliche Lohn liegt dort bei 1€ pro Stunde!
Theoretischer und geschichtlicher Hintergrund
Es gibt verschiedene Konzepte von Be_hinderung. Eines ist das medizinische Konzept, das auch staatlich anerkannt ist und das ich gerade schon ein bisschen beschrieben habe. Von be_hinderten Aktivist*innen habe ich nun ein anderes Konzept kennengelernt: dabei ist „be_hindert“ eine Selbstbezeichnung. Außerdem wird „Be_hindert Werden“ weniger als Zustand angesehen, sondern eher als gesellschaftlicher Prozess. Ich gehe also davon aus, dass alle Menschen verschiedene Fähigkeiten und Bedürfnisse haben. Theoretisch könnten wir das in einer diversen Gesellschaft akzeptieren und versuchen, alles so einzurichten, dass alle Menschen überall mitmachen können, egal was ihre Fähigkeiten sind. Ableismus beschreibt genau dieses System, in dem manche Fähigkeiten als besonders wichtig gesehen werden und andere/oder fehlende Fähigkeiten abgewertet werden. Ob eine Person Zugang zu etwas hat, wird dann davon abhängig gemacht, welche Fähigkeiten ein Mensch hat. Be_hindertenfeindlichkeit ist das Resultat daraus.
Bei Be_hinderten Menschen geht die gerade beschriebene Abwertung soweit, dass ihre ganze Existenz als nicht mehr ‚lebenswert‘ angesehen wird. Dieses Denken erreichte während des Nationalsozialismus den Höhepunkt. Etwa 400.000 Menschen wurden sterilisiert. Über 70.000 Menschen wurden ermordet. Darunter waren in erster Linie be_hinderte Menschen (Menschen mit Lernschwierigkeiten oder psychischen Erkrankungen und körperlich be_hinderte Menschen, Menschen mit Suchterkrankungen), aber auch arbeitslose, obdachlose und queere Menschen, Sex Arbeiter*innen, und viele mehr. Diese Aufzählung macht auch sichtbar, dass Be_hinderung und Krankheit soziale Konstrukte sind, die immer wieder neu definiert werden und von verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich bewertet werden. Die Sterilisierung von be_hinderten Menschen hörte nach Ende des zweiten Weltkriegs nicht auf, sondern geht bis heute weiter. Auch die Einteilung in „lebenswert“ und „nicht lebenswert“ ist findet heute noch teilweise statt – wie zum Beispiel manche Diskussionen über Pränataldiagnostik zeigen.
Es gibt viele Verwobenheiten zwischen Ableismus und anderen Machtstrukturen, wie Rassismus, Sexismus oder Klassismus. Zum Beispiel sind Zugänge zum Gesundheitssystem verschieden: bei vielen Menschen scheitert die Gesundheitsversorgung an fehlendem Geld, aber auch strukturelle Diskriminierungen sind ein Thema. Davon sind unter anderem BIPoC, queere Menschen, FLINTA und Dicke_Fette Menschen betroffen.
Wie uns Ableismus im Alltag begegnen kann
Dass Ableismus mehr als offensichtliche Be_hindertenfeindlichkeit ist, habe ich am Anfang schon erwähnt. Auch im Alltag nimmt Ableismus verschiedene Formen an. Unter anderem:
- Fremdbestimmung: oft wird davon ausgegangen, dass be_hinderte Menschen unselbstständig sind. Deshalb werden sie oft nicht mit einbezogen, wenn es um sie geht. Die meisten nicht-be_hinderten Menschen, denken, dass sie besser wissen, was gut für be_hinderte Menschen ist. Viele sogenannte „Expert*innen“ für Inklusion sind nicht-be_hindert. Aber auch alltägliche Handlungen gehören dazu, wie z.B. wenn Menschen ungefragt anfangen, eine*n (fremde*n) Rollifahrer*in zu schieben, oder wenn be_hinderten Menschen „Gesundheitstipps“ gegeben werden.
- Inspiration: be_hinderte Menschen werden oft ausgebeutet dafür, dass sich nicht-be_hinderte Menschen inspiriert fühlen können. Zum Beispiel, wenn sie „trotz Be_hinderung“ bestimmte Dinge machen oder wenn sie aufgrund von neuen Hilfsmitteln zum ersten Mal etwas bestimmtes machen können. Unterlegt von emotionaler Musik und Untertiteln…
- Falsche Repräsentation: meistens werden be_hinderte Menschen von nicht-be_hinderten Schauspieler*innen dargestellt und dabei werden meistens ableistische Narrative reproduziert. Wenn sie überhaupt mal in den Medien vorkommen. Die Schauspieler*innen, Regisseur*innen etc. verdienen dann Geld und Ansehen auf Kosten von be_hinderten Menschen.
- Unsichtbare Be_hinderungen: wenn es nicht auf den ersten Blick erkennbar ist, dass eine Person be_hindert wird, dann zweifeln viele Menschen die Be_hinderung an und beschweren sich über/verweigern eine anscheinende „Sonderbehandlung“.
- Barrieren: Aufgrund von vielen Barrieren, die von nicht-be_hinderten Menschen oft nicht wahrgenommen werden, haben be_hinderte Menschen viel weniger Zugänge zur Gesellschaft. Dadurch werden sie aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Viele nicht-be_hinderten Menschen haben wenig Kontakt zu Menschen, die sie als be_hindert wahrnehmen.
- Sprache: nicht nur die Art und Weise und die Wörter, die genutzt werden, um über be_hinderte Menschen zu sprechen, sind oft ableistisch, sondern auch generell ganz viel Sprache ist ableistisch und wertet implizit be_hinderte Menschen ab. Ausreden, wie „Das wusste ich nicht“ oder „es ist doch klar, dass ich es nicht so meine“, bringen uns dabei nicht weiter, sondern lenken nur die Aufmerksamkeit wieder auf die bereits Privilegierten. Eine konstruktivere Reaktion wäre: „das tut mir Leid, ich werde mich mehr darüber informieren und darauf achten.“ Ein paar Beispiele für Begriffe und deren Bedeutungen könnt ihr hier finden.
Be_hindertenaktivismus
Im Rahmen der Bürger*innenrechtsbewegungen in den 1960ern/1970ern entstand in den USA auch die Behindertenbewegung, bzw. die Krüppelbewegung, wie die Aktivist*innen sie provokativ selbst nannten. Nach kurzer Zeit kam die sog. Krüppelbewegung auch nach Deutschland. Erst seit 1994 ist die Benachteiligung aufgrund von Be_hinderung laut Grundgesetz verboten. 2008 fand die UN-Behindertenrechtskonvention statt.
Wer mehr über die historische Behindertenbewegung erfahren möchte, kann sich den Dokumentarfilm „Crip Camp“ z.B. hier ansehen.
Heutzutage findet Be_hindertenaktivismus zu einem großen Teil in den sozialen Medien statt. Sei es auf Twitter, Instagram oder TikTok – folgt be_hinderten Aktivist*innen, um mehr über Ableismus, Empowerment und Verbündetenschaft zu erfahren. Social Media ist unter anderem deshalb ein geeigneter Raum dafür, weil er relativ niedrigschwellig ist.
Schlussworte
Sei es im Fernsehen, in der Zeitung, in den sozialen Medien, in meinen Polit-Gruppen, in der Uni oder auf dem Klima-Camp: überall begegne ich ableistischer Sprache und Bildern und vor allem einem riesigen Unwissen über Ableismus, Be_hindertenaktivismus, usw. Das macht mich oft wütend und traurig. Auch wenn ich selbst noch lange nicht alle Aspekte von Ableismus verstehe, nicht alle Selbstbezeichnungen kenne und dadurch auch immer wieder Gefahr laufe, anderen be_hinderten Menschen auf die Zehen zu treten, habe ich den Wunsch, nicht-be_hinderte Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass Ableismus existiert. Ich möchte Gedankenanstöße geben, sodass Menschen sich mehr damit auseinandersetzen. Ich wünsche mir, dass es in meinen politischen Kontexten genauso normal wird, zu sagen „das ist ableistisch“, wie es bereits normal ist, auf Sexismus und Rassismus hinzuweisen (das sollte allerdings auch noch viel mehr normalisiert werden!). Ich möchte, dass sich Gruppen, Organisationen und Institutionen viele Gedanken darüber machen, wie sie Barrieren abbauen können. Ich wünsche mir auch mehr Empowerment-Räume für be_hinderte Menschen. All das ist ein Teil von Klimagerechtigkeit.
Beitrag von Freddie aus dem Locals United Team
1https://www.bpb.de/politik/grundfragen/politik-einfach-fuer-alle/287187/wahlrecht-fuer-alle
2 https://www.eu-schwerbehinderung.eu/index.php/pflege/33-aktuelles/1642-zwangssterilisation-bei-menschen-mit-behinderung
3 https://www.dw.com/de/deutschlands-heikler-umgang-mit-behinderten-werkst%C3%A4tten/a-56924837
4 https://www.aerzteblatt.de/archiv/163572/Vorgeburtliche-Diagnostik-Hin-zu-einer-Eugenik-von-unten